Rammis
Rüde
Rubrik

6/1997

SELTSAME KULTE IN BRAUNSCHWEIG

Folge 23

Wieder neigt sich ein Jahr dem Ende. Und es dräut die Zeit, in der ein Großteil der Bevölkerung des schönen Landes Niedersachsen sich einen einsamen Nadelbaum ins heimische Wohnzimmer stellt, der dort langsam vor sich hin stirbt. Sie nennen das "Weihnachtsfest" oder auch "Weihnachten".

Ursprünglich, vor ein paar tausend Jahren, handelte es sich dabei wohl um ein mittwinterliches Lichterfest, in der Aussicht darauf, daß die Tage wieder länger werden. Im weiteren Verlauf der Geschichte erschien allerdings eine obskure Sekte auf der Bildfläche. Diese hatte, trotzdem (oder gar weil) sie sich als Symbol einen brutal gemarterten Menschen auswählte, erstaunlich viel Erfolg auch in Braunschweiger Gefilden. Ein Grund dafür war jedenfalls, daß sie es meisterlich verstand, die Festivitäten bereits vorhandener Kulte für ihre Zwecke zu okkupieren, statt diese schlicht zu verbieten, was nur zu Unmut in der Bevölkerung führt, da diese bekanntlich aus Gewohnheitstieren besteht. So übernahm sie, neben anderen, auch das Weihnachtsfest und machte es zu einem der Höhepunkte ihrer Riten.

Heutzutage hat allerdings auch diese Sekte an Boden verloren (was ganz gut ist, weil dadurch Leuten wie mir eine öffentliche Verbrennung bei lebendigem Leibe -- ehedem beliebtes "Überzeugungsmittel" -- meist erspart bleibt). Das Weihnachtsfest selbst aber ist von einem weiteren Kult übernommen worden, der "Konsum" heißt und sehr viele Anhängerinnen und Anhänger in Braunschweig und anderswo gewonnen hat. Der sterbende Baum im Wohnzimmer ist ein sehr passendes Symbol für ihn. Der Höhepunkt der weihnachtlichen Ritualhandlung besteht darin, den Baum mit Tand zu schmücken und um ihn herum hübsch verpackte sogenannte Konsumgegenstände anzuhäufen, die den teilnehmenden Personen zugeordnet werden. Diese auch "Geschenke" genannten Fetische zeichnen sich in der Hauptsache dadurch aus, daß sie gänzlich überflüssig sind, aber eine als schön empfundene Oberfläche haben. Währenddessen ist der Baum -- äußerlich durchaus noch ansehnlich -- innerlich schon längst verrottet. Und gerade darum geht es in diesem Kult: wer die höchsten Weihen erreichen will, darf nur noch Äußerlichkeiten wahrnehmen, das Innere aber muß er verleugnen.

Insbesondere für Kinder dient dieses Fest als eine Art Initiationsritus. Diese werden mit besonders vielen der erwähnten Kultgegenstände "beschenkt" und schon im Vorfeld auf vielerlei Art aufgefordert, eine gefühlsmäßige Bindung zu diesen aufzunehmen. Diese Konditionierung, zusammen mit einer Betäubung durch das übermäßige Einnehmen von Nahrung, Genußmitteln und Drogen, soll die eigentliche Leere der ganzen Handlung überdecken. Hier ist insbesondere anzumerken, daß der Baum, für viele angeblich Mittelpunkt der Handlung (Kein Weihnachten ohne Weihnachtsbaum!), während des gesamten Ritus für gewöhnlich nicht einmal einen Schluck Wasser bekommt.

Zum der weihnachtlichen Kulthandlung selbst gehört ein ritueller Streit. Kennerinnen der Materie vermuten, die Gründe dafür lägen darin, daß die Teilnehmenden sich gegenseitig ihre Verachtung darüber ausdrücken, daß sie ihre Innerlichkeit noch nicht zur Gänze überwunden haben und eben nicht nur aus Oberfläche bestehen, ganz im Gegensatz zu den Fetischen.

Selbst die hartgesottensten unter den Teilnehmenden sind am Ende des mehrtägigen Festes erschöpft und verbittert. Dessen ungeachtet nehmen alle nicht nur mit Elan an den kurz darauf folgenden Riten teil (das Fest "Sylvester" mit einem rituell nicht gehaltenen Schwur und die Kulthandlung "Winterschlußverkauf", wo das sogenannte "Grabbeln" ausgeübt wird), sondern wünschen sich bereits ein Jahr später schon wieder "Fröhliche Weihnachten".